Der Läuterungsberg I

„Schau dir die Menschen am Berge dort an!
Kriechen und wanken zum Gipfel hinan,
sehen zerlumpt und bedauernswert aus -
mag sie nicht anschauen – oh, welch ein Graus!“

„Sünder sind diese, versuchen durch Pein
Teil wieder göttlicher Gnade zu sein.“
„Schuldig? Ach was, sie bereuen die Tat?
Ist eine Sünde nicht eher privat?

Zeigen ihr Leiden am Berge fürwahr
jedem Spaziergänger deutlich und klar.
Möchte solch Unsinn nun wirklich nicht sehn,
komm, lass uns besser zur Gastwirtschaft gehn.“

„Kennst nicht die Sünden, ob klein oder groß?
Lügen allein sind bereits ein Verstoß.“
„Sag mir, was treibt diese Menschen dort an?
Gottvater scheint mir ein rechter Tyrann.“

„Gott ist die Liebe, vergiss bitte nicht,
gab seinen Sohn her dem Menschengericht.
Hoffte, sein Opfer ergäbe uns Sinn,
siehe zum Berge: Es war nicht viel drin.“

„Stahlen sie Gold oder brachen sie ein?
Folgten der Wollust, erlagen dem Schein?
Nahmens nicht immer besonders genau?
Wandelten hochnäsig gleich einem Pfau?“

„Stolz gilt als Sünde und Trägheit zudem,
Folgen des Neids und der Habsucht, kannst sehn
drunten am Berge an endlosem Leid
Jener, die opfern verzweifelt die Zeit

büßend und suchend nach endlichem Licht,
nur ohne Lauterkeit kümmerts uns nicht.
Bist ohne Sünde, dann gehe voran,
sieh, dass du fort kommst, ich schau mir das an.“

„Werd nicht gleich grantig, du solltest verstehn,
mag solche Darstellung wirklich nicht sehn.
Grausame Strafen sind nicht so mein Fall,
Sünden ereilen uns fast überall.

Halt sie geheim, denn darauf kommt es an,
ehrenvoll leben die Frau sowie Mann,
frönen dem Maßlosen wie ihrer Gier,
sinnlos, so scheint mir, verweile ich hier.“

„Trägst keine Sünde, dann wirf jenen Stein,
ziele genau, bist im Herzen du rein.
Denke daran, er fliegt auch zurück,
Tage um Tage und Stückchen für Stück.“

© 05.02.2016