Nachtmahr

Bei mir herrscht Ordnung Tag und Nacht,
ein jeder Griff ist wohldurchdacht.
Es gilt für mich der kluge Satz:
Ein jedes Teil hat seinen Platz.

Doch neulich wurds mir angst und bang,
sah nahen meinen Untergang.
Ich fand mich suchend dort wie hier
nach einem wichtigen Papier.

Es ging mir glutheiß durch den Sinn:
Wo warn die andern Zettel hin?
Im Schreibtisch? Nein, ich fand sie nicht,
verlor alsbald die Übersicht.

Kroch unters Bett, in jedes Eck,
und immer enger zog der Schreck.
Er dröhnte wild in meinem Hirn,
der kalte Schweiß troff von der Stirn.

Sogar die Knie waren weich,
wurd kräftelos und geisterbleich,
nur stoßweis ging die Atemluft,
ich sah mich in Gefängniskluft.

Das Grauen zog mich kurzerhand
mit eisgen Klauen an den Rand
des tiefen, schwarzen Abgrunds und –
beinahe fiel ich in den Schlund.

Denn wer kennt die Gesetze nicht,
die angemahnen Bürgerpflicht?
Ich hab gejammert und gegrollt,
Fortuna war mir endlich hold:

Im Schreibtisch fand ich ordentlich,
sortiert, gestapelt, vorbildlich,
gleich obenan im ersten Schub
wonach ich schon seit Stunden grub.

Ich habe bis zur späten Nacht
gewissentlich die Pflicht vollbracht.
Am Ende war ich sterbenskrank,
und wieder ward mir angst und bang:

Ich grübelte, addierte, schrieb,
bis kaum ein Pfennig übrig blieb.
Denn folglich bin ich altes Haus,
bald arm wie eine Kirchenmaus.

Am Ende, schon zu früher Stund,
gedachte ich des Volkes Mund:
„Was übrig lässt der Christus,
holt sich sogleich der Fiskus“.

© 02.01.2021